Bischof und Superintendent "gegen ein Schweigen, das zum Himmel schreit"
Gemeinsamer Ökumenischer Hirtenbrief von Diözesanbischof Ägidius J. Zsifkovics und des evangelischen Superintendenten Manfred Koch angesichts der vor 80 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 stattgefundenen nationalsozialistischen Pogrome gegen Jüdinnen und Juden – Deutlicher Appell für eine kritische Aufarbeitung des Nationalsozialismus sowie gegen Diskriminierung, Nationalismus und Populismus
Eisenstadt – "Gegen ein Schweigen, das zum Himmel schreit": So lautet die Überschrift und der Grundtenor des gemeinsamen Ökumenischen Hirtenbriefs, den Bischof Zsifkovics und Superintendent Manfred Koch 80 Jahre nach den Novemberpogromen des NS-Regimes verfasst haben. Und sie finden sehr klare Worte, an deren Anfang eine zweifache Betroffenheit steht: "Betroffenheit über das unaussprechliche Leid so vieler Menschen" – insgesamt wurden alleine in dieser Nacht mehrere hundert Menschen ermordet oder in den Suizid getrieben, 30.000 Jüdinnen und Juden in KZs deportiert, darunter 6.500 österreichische Juden –, aber auch "Betroffenheit darüber, dass unsere christlichen Kirchen und ihre Mitglieder so viel schuldig geblieben sind."
Nur ganz wenige Ausnahmen, etwa der Franziskanerpater Kapistran Pieller, damals Rektor der Klosterschule in Eisenstadt und 1945 von der SS erschossen, hätten dieses "weite Meer beschämenden Schweigens" durchbrochen. Der Brief wird an alle katholischen und evangelischen Pfarren des Burgenlandes versandt und am 10. oder 11. November verlesen.
Literarische Anklage gegen das Schweigen
Für die Vermittlung ihres Grundanliegens, die Mauer des (Ver-)Schweigens, Verdrängens und Vergessens zu durchbrechen, dabei die kritische Auseinandersetzung mit Fragen der Schuldverstrickung und Mitverantwortung zu führen und den Opfern einen Raum würdevollen Gedenkens zu geben, verwiesen Bischof Zsifkovics und Superintendent Koch auf ein Werk des österreichischen Schriftstellers Michael Köhlmeier: In dem Hörspiel "March Movie" geht es um das plötzliche Verschwinden einer Blasmusikkapelle bei einem Musikfest in der Provinz. Niemand nimmt davon ernsthaft Notiz, nur der als Außenseiter stigmatisierte Bahnschrankenwärter geht der Sache nach. Jahre später findet er die verschollene und nun stark veränderte Kapelle, die ein Symbol für das Verdrängen ist. "Köhlmeiers Stück ist eine Anklage gegen eine Kultur des Schweigens, des Verdrängens und Vergessens, die zu allen Zeiten das Menschsein bedroht", betonen der Bischof und der Superintendent. Nicht zufällig wählten sie ein Beispiel aus der österreichischen Literatur, die früher und deutlich konsequenter die Schuld und Mitschuld am totalitären, menschenverachtenden NS-Regime und seinem schließlich in den Holocaust mündenden Terror zur Sprache brachte als andere Bereiche des öffentlichen Lebens.
Aufruf für eine Kultur des Erinnerns
"Auch das Burgenland hat noch viele Fragen zu stellen": Dabei geht es etwa um die Aufarbeitung der vielfach noch ungeklärten Schicksale jener rund 900 jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die 1938 noch in Eisenstadt lebten. "Von den ursprünglich zwölf jüdischen Gemeinden ist heute keine einzige mehr vorhanden." Eine wichtige Frage betrifft auch die Erinnerungskultur: "Wiederholt haben unsere beiden Kirchen im Burgenland öffentlich dazu aufgerufen, an den betreffenden Orten Mahnmale zu errichten für Diskriminierte, Verfolgte, Ermordete." Der Dank gelte jenen Gemeinden, die diese Schritte bereits gesetzt haben. An alle anderen Gemeinden appellierten Bischof Zsifkovics und Superintendent Koch, sich ihrer Verantwortung im Umgang mit der eigenen Geschichte zu stellen.
"Unter die Steine des Verdrängens blicken"
Die grafische Illustration des Hirtenbriefs nahm Künstler Heinz Ebner vor. Dabei nahm er Bezug auf Köhlmeiers "March Movie" und die Blasmusikkapelle als Bild für das Verdrängen, das es unter den Steinen der Verschüttung und des Verschweigens hervorzuholen gelte: "Eisenstadt und die anderen burgenländischen Orte vernichteten jüdischen Lebens brauchen eine ehrliche Erinnerungskultur und entsprechende Zeichen der Reue und Aufarbeitung im öffentlichen Raum. Wir haben noch unter viele Steine zu blicken", heißt es im Hirtenbrief.
Gegen Diskriminierung und Nationalismus
Der christliche Glaube verpflichtet, "gegen jede Form von Diskriminierung in der Welt von heute" einzutreten. "Wie mutig verhalten wir uns als Christen tatsächlich, wenn wir Ausgrenzungen und Diskriminierung in unserem persönlichen oder beruflichen Umfeld wahrnehmen?", fragten Bischof Zsifkovics und Superintendent Koch. Beide wendeten sich scharf gegen Tendenzen der verbalen Verrohung und des Missbrauchs mit Worten. Eindringlich warnten sie vor Nationalismus und Populismus, die immer mit Ausgrenzungen zwischen vermeintlichen "Wir"-Gruppen (ob "America first" oder "Österreich den Österreichern") und "anderen", die als Feindbilder herabgewürdigt und diskriminiert werden, operieren. "Jesus Christus war kein Amerikaner, kein Österreicher, auch kein Ungar, kein Italiener und kein Russe."
Mitschuld der christlichen Kirchen
Der Hirtenbrief benennt die Migrations- und Flüchtlingsfrage als Maßstab für den "christlich-humanistischen Grundwasserspiegel Europas und kritisiert die "Weigerung vieler europäischer Staaten, bei der Aufnahmequote für Flüchtlinge eine solidarische gesamteuropäische Lösung zu beschließen". Und schließlich bekennt der Hirtenbrief unmissverständlich die Mitschuld der christlichen Kirchen an der Geschichte der Diskriminierung und des Hasses, sei es angesichts der Bekämpfung anderer christlicher Konfessionen, sei es angesichts des so tief in Europa verwurzelten religiös motivierten Antijudaismus bis hin zum "fehlenden Mut zum christlichen Zeugnis" in der Zeit des Nationalsozialismus. Und so bitten Bischof Zsifkovics und Superintendent Koch im Ökumenischen Hirtenbrief, die "unselige Tradition des Schweigens zu überwinden und eine Haltung des mahnenden Gewissens zu vertreten."
Ökumenischer Hirtenbrief von Bischof Zsifkovics und Superintendent Koch (PDF)