Zsifkovics und Koch gegen "Unkultur des Schweigens"
Anlässlich des 80. Jahrestages der nationalsozialistischen Novemberpogrome überreichten Diözesanbischof Ägidius J. Zsifkovics und der evangelische Superintendent Manfred Koch im Rahmen einer Gedenkveranstaltung am Dienstag, 30. Oktober, in der Synagoge des Österreichischen Jüdischen Museums in Eisenstadt an Oberrabbiner Arie Folger den von beiden verfassten Ökumenischen Hirtenbrief "Gegen ein Schweigen, das zum Himmel schreit" – Der Brief enthält einen deutlichen Appell für eine kritische Aufarbeitung des Nationalsozialismus einschließlich der Frage der Schuld und Mitschuld der christlichen Kirchen und erteilt Diskriminierung und Nationalismus eine klare Absage.
Eisenstadt – "Die Ereignisse von 1938 in Österreich mit den Novemberpogromen als Beginn der Schoah haben unsägliches Leid über das jüdische Volk gebracht und es in unseren Breiten beinahe ausgerottet. Besonders bei uns im Burgenland ist von den zwölf jüdischen Gemeinden keine einzige mehr vorhanden": Deutliche Worte der Betroffenheit, der Scham und Trauer fand Bischof Ägidius Zsifkovics am Dienstag in der Synagoge des Österreichischen Jüdischen Museums in Eisenstadt. Gemeinsam mit Oberrabbiner Arie Folger und Superintendent Manfred Koch gedachte der Bischof der nazistischen Novemberpogrome. Im Anschluss an die Gedenkfeier übergaben Bischof Zsifkovics und Superintendent Koch ihren Ökumenischen Hirtenbrief "Gegen ein Schweigen, das zum Himmel schreit". Der Brief wurde an alle katholischen und evangelischen Pfarren des Burgenlandes zum Verlesen versandt.
"Stein des Schweigens lastet bis heute auf uns"
In der Nacht vom 9. auf den 10. November wurden im NS-Staat im Rahmen eines erschreckenden Terrors hunderte Menschen ermordet oder in den Suizid getrieben und rund 30.000 Jüdinnen und Juden in Konzentrationslager deportiert, darunter 6.500 österreichische Juden. "Damals haben zu viele Menschen, zu viele Christen, zu diesem Leid geschwiegen und sich schuldig gemacht. Und auch in den Jahrzehnten danach bis heute lastet der Stein des Schweigens schwer auf uns. Wir bitten als Kirchen Gott und unsere jüdischen Brüder und Schwestern um Vergeben", so der Bischof.
"Wiederkehr von Ausgrenzung und Diskriminierung"
Die "Unkultur des Schweigens, Vergessens und Verdrängens" sei nicht bloß eine Frage der Vergangenheit. Es gehe vielmehr um eine "Frage, die mit unserer Gegenwart und Zukunft zu tun hat", betonte Bischof Zsifkovics und sprach eine deutliche Mahnung aus: "Wir erleben eine Wiederkehr des Schweigens und der damit verbundenen Unkultur – Ausgrenzung, Diskriminierung, Verrohung des Umgangs miteinander, Zündelei mit der Sprache und anderes mehr scheint wieder salonfähig zu werden." Die Kirche und mit ihr die Christen seien gefordert, "für die Würde jedes Menschen und für ein Zusammenleben aller Menschen einzutreten – gleich welcher Religion, Nation oder Ethnie sie angehören", betonte der Eisenstädter Diözesanbischof.
Oberrabbiner Folger dankt Zsifkovics und Koch
Oberrabbiner Arie Folger bedankte sich ausdrücklich bei Bischof Zsifkovics und Superintendent Koch für deren Initiative und deutliche Worte. Er würdigte beide für deren Bemühen um eine "Kultur des Gedenkens", gerade auch auf regionaler Ebene. Den Weg, den das Judentum auf internationaler Ebene zurücklegen musste, um die "hartnäckige Tradition des Schweigens und der Verharmlosung, mitunter sogar der Legitimierung der Schoah" aufzubrechen, sei ein langer und mühevoller gewesen.
Scharfe Kritik an populistischer "Ächtung religiöser Praktiken"
Es sei wichtig, so Oberrabbiner Folger, dass das jüdische Volk in einer Zeit, in der "die Ächtung religiöser Praktiken, wie etwa des Schächtens, wieder auf der politischen Agenda" stünde, auf Partner zählen könne, die ihre Stimme erheben gegen Diskriminierung und schleichende Eingriffe in die Religionsfreiheit. Als solche Partner sehe er die christlichen Kirchen im Burgenland an. Aus den Händen von Bischof Zsifkovics und Superintendent Koch nahm er am Ende der Gedenkfeier den Ökumenischen Hirtenbrief entgegen.
Ökumenischer Hirtenbrief von Bischof Zsifkovics und Superintendent Koch (PDF)
Appell für kritische Erinnerungskultur
Der Ökumenische Hirtenbrief ruft ausdrücklich zu einer kritischen Erinnerungskultur und Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sowie mit Fragen der Schuld und Mitschuld an den nazistischen Verbrechen auf. Er fordert Gemeinden des Burgenlandes auf, sich der eigenen Geschichte zu stellen und der "Diskriminierten, Verfolgten, Ermordeten" zu gedenken – durch "Zeichen der Reue und Aufarbeitung im öffentlichen Raum", wie etwa Mahnmale. Zugleich wird jenen Gemeinden gedankt, die solche Schritte bereits gesetzt haben.
Jesus lässt sich nicht national vereinnahmen
Christlicher Glaube verpflichte dazu, gegen Diskriminierung, Ausgrenzung und Verletzungen der Menschenwürde einzutreten. "Jesus Christus war kein Amerikaner, kein Österreicher, auch kein Ungar, kein Italiener und kein Russe", warnten Bischof Zsifkovics und Superintendent Koch vor Tendenzen des Nationalismus und Populismus, der auf Feindbildern aufbaue und meine, antipluralistische Identität durch Ausgrenzung gegen vermeintlich "andere" und herabgewürdigte "Fremde" konstruieren zu können.
Kirchliche Mitschuld
Im Hirtenbrief bekennen der katholische Bischof und der evangelische Superintendent auch die Mitschuld der Kirchen am Antisemitismus, den die Nationalsozialisten keineswegs auf einer "tabula rasa", sondern auch auf dem Nährboden eines über Jahrhunderte tradierten religiösen Antijudaismus entfachten. Der Hirtenbrief bekennt den "fehlenden Mut zum christlichen Zeugnis" in der Zeit des Nationalsozialismus und tritt konsequent für die Überwindung der "unseligen Tradition des Schweigens und für eine Haltung des mahnenden Gewissens" ein. Gelegenheiten dafür gebe es in der Gegenwart mehr als genug, wobei im Hirtenbrief u.a. die Migrations- und Flüchtlingsfrage ausdrücklich als Maßstab für den "christlich-humanistischen Grundwasserspiegel Europas" benannt wird.