Ein Pilger zwischen den Welten
Seit beinahe vier Jahrzehnten ist der Eisenstädter Diözesanpriester und gebürtige Steirer Karl Hirtenfelder für die Beziehungen zwischen der Diözese Eisenstadt und ihrer südindischen Partnerdiözese Kanjirapally zuständig.
Aus anfänglichen losen Besuchen ist mittlerweile eine lebensbegleitende und lebensgestaltende Beziehung des Priesters zu Keralas Menschen und Kultur geworden, Bischof Ägidius Zsifkovics würdigt Hirtenfelder gar als die "lebende Brücke und eigentlichen Motor" der erfolgreichen Diözesanpartnerschaft.
Eisenstadt / Pothupara - Der Pressesprecher der Diözese Eisenstadt, Dominik Orieschnig, bat den ansonsten eher zurückhaltenden Karl Hirtenfelder anlässlich der eben erst zu Ende gegangenen Pilgerreise zum ausführlichen Gespräch. In Pothuparas "High Ranges", den urwaldbewachsenen Bergen Südindiens, wo Hirtenfelder seit Jahrzehnten bei seinen Kerala-Besuchen gastiert, entstand in einem ehemaligen britischen Militärspital, das heute der Diözese Kanjirapally als Ayurveda-Museum dient, ein Dialog über das ganzheitliche östliche Menschenbild, darüber, was Europäer von den Menschen in Kerala lernen können und wie die eigentlichen Ziele im Leben oft nur über Umwege erreicht werden.
DO: Lieber Karl, es ist unverkennbar, dass Du eine große Liebe zu Kerala und zu Indien hegst. Wie hat denn das Ganze begonnen?
KH: Das hat begonnen 1981 mit dem Besuch in der Diözese Kanjirapally, um die Kapelle des Seminars einzuweihen, und bei dieser Gelegenheit wurden verschiedene Grundsteine gelegt und die Partnerschaft begründet zwischen Erzbischof Powathil und Bischof László. Und als wir Zuhause angekommen sind, habe ich die Betreuung der indischen Gäste innegehabt. Als ich dann Pfarrer wurde, habe ich gemeint, die Aufgabe wäre jetzt vorbei. Aber im Gegenteil: Bischof László hat weiterhin alle Gäste zu mir geschickt. Und die sind dann selbstverständlich immer wieder gekommen, vor allem Erzbischof Powathil. Meistens zweimal im Jahr, weil er Vertreter bei Pro Oriente war. Und da ist zwischen uns beiden wirklich eine tiefe Freundschaft entstanden.
DO: Deine Mutter hat hier eine nicht ganz unwesentliche Rolle gespielt ...
KH: Ja, sie hat natürlich die Gäste verpflegt und Ihnen das gekocht, was sie sich wünschten.
DO: Konntest Du Dir damals vorstellen, dass eine so langjährige, mittlerweile lebensbegleitende Sache daraus wird?
KH: Eigentlich nicht. Wir haben zweimal, dreimal von der Pfarre aus eine Rundreise hierher gemacht, aber wirklich langfristig wurde die Beziehung für mich eigentlich aus gesundheitlichen Gründen. Ich hätte zu Hause auf Behandlung gehen müssen, doch der damalige Bischof Vattakuzhy erfuhr über meinen indischen Kaplan Thomas davon und hat mich angerufen und gesagt: "Komm zu uns, mach eine Ayurveda-Kur!" Das war vor genau 21 Jahren. Seit damals bin ich jedes Jahr in Indien.
DO: Ayurveda bedeutet meines Wissens soviel wie Lebensweisheit. Ist es tatsächlich mehr als eine medizinisch-physikalische Behandlung?
KH: Für mich war es das sicher. Im ersten Jahr meiner Behandlung wurde meine Gesundheit wieder hergestellt, alle Werte waren in Ordnung. Im zweiten Jahr habe ich dann mit dem Rauchen aufgehört, so dass der Körper nicht weiter belastet war. Und im dritten Jahr wurde es dann zu einem seelischen Prozess. Ich habe begonnen, all das, was mir auf der Seele gelegen ist, von Herzen zu verzeihen, alle Beleidigungen, ja wirklich alles, so dass auch die Seele gereinigt worden ist. Und das ist seit damals meine Gewohnheit.
DO: Du giltst mit oder ohne Ayurveda als besonders aufgeschlossener und fortschrittlich denkender Mensch und Priester. Ich würde Dich als modern bezeichnen, trotz Deines Alters. Inwieweit hat hier auch die Begegnung mit der indischen Heilpraxis und den Menschen Indiens und ihren sehr verschiedenen Traditionen, die sich hier in einem Brennpunkt sammeln, eine Auswirkung auf Deine persönliche Lebenshaltung gehabt? Wurde Dein fortschrittliches Denken verstärkt, oder sind ganz andere Facetten hinzugekommen, die Dir neue Wege zeigten?
KH: Sowohl als auch. Begonnen hat es eigentlich durch meine Mitarbeit in der "Bewegung für eine bessere Welt" von Pater Lombardi, wo ja besonders der Weg der Kirche in die Zukunft in den Fokus genommen wurde und die Verwirklichung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Doch hier in Indien durch die Begegnung mit den verschiedenen Kulturen und Religionen, hat sich das sehr geweitet und mich noch offener gemacht.
DO: "To make a better world" - das sind Worte, die Du auch einmal aus dem Mund eines Hindu-Priesters gehört hast...
KH: Wir waren in einem spirituellen Tempel mit Meditationsnischen und ähnlichem, ich weiß nicht mehr den Ort. Es war ein kleiner Tempel und ich bin so herumspaziert, da hat mich der Priester, der vorne stand, zu sich gewunken und gefragt, ob er mir den Segen geben darf. Ich sagte "Natürlich!", und da hat er diesen schicksalhaften Spruch getan: "Be a good promotor of a better world!" Und ich war damals ja wirklich "Promotor" in der Bewegung Pater Lombardis.
DO: Einige Mitglieder unserer Pilgergruppe waren zum ersten Mal auf dem indischen Subkontinent. Ich gehöre da auch dazu und war sehr beeindruckt von der Offenheit, der Liebenswürdigkeit der Menschen, von der Würde, mit der sie sich bewegen, mit der sie sprechen, mit der sie mir als Fremdem begegnen. Und ich war sehr beeindruckt von der Freude und der Energie, mit der hier Gottesdienst gefeiert wird. Was ist für Dich der südindische Mensch, was zeichnet den Menschen hier in Kerala aus und was unterscheidet ihn vom europäischen Menschen?
KH: Zu allererst, dass er den Glauben, den er hat, nicht verbirgt. Egal ob Christen, Muslime oder Hindus: jeder lebt seinen Glauben offen. Und aus diesem Glauben heraus begegnen sie auch den Menschen in Offenheit und achten die Würde des anderen. Und das lernt man hier selbst mit der Zeit, ohne ordinär zu wirken. Denn manchmal kommt der Europäer in fremden Ländern dazu, die Einheimischen etwas abschätzig zu behandeln. Das wird hier durch diese Offenheit und Freundlichkeit verhindert.
DO: Es gibt aus Nordindien Berichte, nicht nur von Diskrimierung von Christen, sondern auch von ganz klaren Menschenrechtsverletzungen und Christenverfolgungen. Ebenso gibt es Fälle von Übergriffen gegenüber Frauen. Hier in Kerala scheint das noch einmal ganz anders zu sein. Worauf würdest Du das zurückführen?
KH: Auf das gute Zusammenleben und die Achtung der verschiedenen Religionen voreinander. Als damals die radikalen Hindus auch hier ihr Programm beginnen wollten, haben die ansässigen Hindus das verhindert.
DO: Was war in all den Jahren hier Deine beeindruckendste menschliche Begegnung?
KH: Erzbischof Powathil war irgendwie ein mystischer Mensch - vielleicht hat mich das so sehr beeindruckt. Wie er Gottesdienst gefeiert hat, oder wie er mit einem gesprochen hat. Das war nicht nur nach dem Motto "Er ist gescheit und Du bist dumm", sondern es war stets eine gleichwertige Begegnung.
DO: Die Syro-Malabarische Kirche hat Erzbischof Powathil in Hinblick auf ihren Ritus sehr viel zu verdanken. Er hat die Wurzeln des Ritus wieder freigelegt, nachdem er im Zeitalter der portugiesischen Kolonialisierung Südindiens zurückgedrängt worden war, um die lateinischen Ritusformen zu implementieren, teilweise auch mit Gewalt. Bist Du der Meinung, dass, wenn die Portugiesen etwas offener, etwas weniger rigoros und monolithisch agiert hätten, eine viel weitere Verbreitung des Christentums in ganz Indien möglich gewesen wäre? Wenn man sich anschaut, mit welcher Offenheit die Inder auf die Vielgestaltigkeit des Göttlichen zugehen, verschiedene Riten und Glaubensformen nebeneinander akzeptieren, ja auch schon innerhalb ihrer hinduistischen Tradition, sollte das keine Unmöglichkeit gewesen sein...
KH: Ja, die Portugiesen hätten mehr Offenheit und vor allem mehr Achtung gebraucht. In Kerala ist das Christentum seit dem Jahre 52 präsent, bei uns ist es erst um das Jahr 1000 gekommen.
DO: Du hast hier im Laufe der Jahre durch die ayurvedische Behandlung viele interessante Gespräche mit Ärzten, Masseuren und anderen Personen führen können. Es gibt eine beeindruckende Episode, von der Du mir erzählt hast, nämlich, dass ein Arzt hier im Ayurveda-Hospital Dir gegenüber bemerkt hat, dass Christen es gegenüber Hindus in einem Punkt leicht hätten. In welchem?
KH: Mit unserem Ayurveda-Arzt unterhalte ich mich sehr oft über religiöse Fragen, zumal er sehr offen ist und das Neue Testament gut kennt, obwohl er ein Hindu ist. Er hat zu mir gesagt: "Ihr Christen habt es leicht. Jesus sagt euch, wie ihr leben sollt. Und wer nicht danach lebt, hat die schlechten Erfahrungen. Wir Hindus müssen erst durch schlimme Erfahrungen draufkommen, wie wir leben sollen."
DO: Ein Thema, das ich gerne ansprechen möchte - auch wenn Du es nicht gerne hörst, weil Du ein bescheidener Mensch bist: Deine Rolle in Indien beschränkte sich ja nicht auf das Hin- und Hertragen von Nachrichten zwischen den beiden Diözesen, sondern Du giltst als Brücke und Lebensader zwischen Eisenstadt und Kanjirapally. Diese Form der Partnerschaft, die in vier Jahrzehnten so fruchtbar geworden ist, wäre nicht möglich gewesen ohne die persönliche Pflege von Kontakten und den Aufbau freundschaftlicher Beziehungen, wie wir sie heute erleben und auf denen künftige Bischöfe weiterbauen können. Ich war sehr beeindruckt vom Marian College in Kuttikkanam, an dem wir vorbeifuhren und für das Du in Vertretung von Bischof Iby den Grundstein legtest. Wo früher Niemandsland war, steht heute ein riesiger Universitätscampus mit mehreren Fachrichtungen, um den herum eine urbane Struktur mit Versorgungs- und Wirtschaftszweigen entstanden ist. Man kann sagen, dass Du hier in Kerala durch Dein Zutun viel hinterlassen hast. Was ist eigentlich das Projekt, auf das Du am meisten stolz bist und von dem Du sagst, dass es für die Menschen am meisten bedeutet hat?
KH: Ich glaube, das wird wohl das Marian College sein, weil wirklich etwas Großes daraus geworden ist, auch mit ermöglicht von privaten Personen des Lions Club. Das hat sich dann alles positiv weiterentwickelt. Ich bin auch heute mit dem jetzigen Leiter des gesamten College gut befreundet.
DO: Die Diözese hat viele Projekte nur mit der großen Hilfsbereitschaft burgenländischer Pfarren und burgenländischer Privatpersonen stemmen können, eines konnten wir vor wenigen Tagen selbst erleben: die Weihe der neuen Kirche in Kumily, wo eine Delegation aus Stegersbach und Ollersdorf vertreten war. Glaubst Du, dass die Burgenländer sich hier durch eine besonders große Spendenfreudigkeit auszeichnen - gefragt vor dem Hintergrund, dass auch das Burgenland vor nicht allzu langer Zeit so etwas wie eine Schwellenregion in Europa gewesen ist und diese Erfahrung subkutan unter der Haut des heutigen Wohlstandsburgenländers zu mehr Verständnis für die Aufbauarbeit anderer sorgt?
KH: Ich glaube schon, dass diese Einstellung bei uns vorherrschend ist, wenn auch nicht bei allen: Was man teilt, das vermehrt sich. Auch im persönlichen Leben erfährt man, dass, wenn man etwas herschenkt, man es doppelt zurückbekommt. Das, so glaube ich, ist bei uns im Burgenland eine Haltung. Diesbezüglich möchte ich erwähnen, dass unter Bischof Arackal die Pfarre Stegersbach ein Familienprojekt gestartet hat, die Erzengel-Raphael-Aktion. Seit 1994 bis heute haben 720 Familien durch Patenschaften in Europa eine feste Existenz bekommen. Wenn beispielsweise ein Familienvater durch Unfall oder Krankheit arbeitsunfähig wird, stellen die Sponsoren der betroffenen Familie etwa einen Stall mit zwei Kühen oder eine Nähmaschine zur Verfügung, damit neue Einkommensmöglichkeiten geschaffen werden. Ich glaube, dass auch dieses Projekt sehr viel Nachhaltigkeit besitzt. Ich erinnere mich an eine Frau, deren Mann verstorben war, die Kinder im Ausland zum Arbeiten, und sie stand da mit Nichts. Durch unsere Hilfe konnte diese Existenz neu aufgebaut werden. Diese pfarrliche Initiative ist etwas, das mich neben den diözesanen Projekten besonders beeindruckt.
DO: Was können unsere Menschen zuhause, unsere Gläubigen, unsere Priester, ja und auch unsere Bischöfe in Österreich und Mitteleuropa von den Menschen hier lernen?
KH: Die Nähe der Begegnungen, die Anteilnahme am Leben des Anderen. Wenn man in Kerala zum Beispiel mit Priestern oder anderen Leuten zusammen ist, wird nie gefragt "Was sind Sie von Beruf? Was machen Sie? Was ist Ihr Status?", sondern das Menschliche steht im Vordergrund: "Wie geht es Ihnen? Was macht Ihnen Freude? Wie heißen Sie?" In Kerala bist Du ganz einfach Du! Vielleicht gibt es auch hier Karrieredenken, aber ich habe es noch nie erlebt, vor allem nicht bei meinen Freunden.
DO: Wir haben diese Pilgerfahrt am Grab des Apostel Thomas begonnen. Thomas ist als der Zweifler bekannt. Welche Rolle spielt der Zweifel in Deinem Leben? Hast auch auch Du manchmal bei Nebel gebetet, wie es so schön heißt?
KH: Eigentlich habe ich sehr viele Stunden des Zweifels und der Überlegungen gehabt, besonders auch in der Berufungsfindung. Ich bin ja ein Jahr vor der Priesterweihe aus dem Seminar ausgetreten, aber nicht von mir aus, sondern weil ich Exerzitien gemacht habe. Und da hat mir damals der Exerzitienmeister gesagt: "Wenn Sie Priester werden wollen, dann müssen Sie aus dem Seminar austreten!" Ganz was Neues, nicht wahr? Dann habe ich Soziologie zu studieren begonnen, aber dann kam dazwischen, dass unser Regens gesagt hat, ich soll als Erzieher ins Internat gehen, weil die jemanden suchen. "Gut, dann verdienst du eben Geld", dachte ich mir. Aber aus dieser Arbeit mit den Kindern ist dann immer mehr geworden. Es entstand in mir die Frage, worauf es im Leben wirklich ankommt.
DO: Der Regens hat offensichtlich erkannt, dass Du einen Umweg gehen musst. Einem jeden würde man wohl nicht den Rat geben, aus dem Priesterseminar auszutreten, um Priester zu werden...
KH: Eines Tages hat die Mutter eines Zöglings zu mir gesagt: "Wenn Sie Priester wären, würde ich jetzt glatt bei Ihnen beichten!" So bin ich wieder ins Seminar zurückgegangen. Dann als Sekretär zum Bischof und danach in meine erste Pfarre Stegersbach, wo ich noch heute bin.
DO: Wir haben zwei Mitreisende, die Dich als Spiritual und Präfekten im Knabenseminar in Mattersburg erlebt haben und die aus eigener Erfahrung Dein pädagogisches Talent bestätigen. Ich kann es verraten: es ist unser Herr Bischof und es ist unser Chefredakteur des martinus, die beide öfters davon erzählt haben, dass Du für sie eine Vaterfigur warst in einem Internat, dass ja - zumal zur damaligen Zeit - doch eine eher sterile, kalte Angelegenheit war. Und dass Du jemand gewesen bist, dessen Tür immer offen war für die jungen Leute. Wo sie einen Kaffee bekommen haben, wo sie Asterix-Comics lesen konnten, und das hat sie geprägt.
KH: Ich war in meiner Tätigkeit als Erzieher und später dann als geistlicher Erzieher sehr beeindruckt von dem berühmten polnischen Kinderarzt Janusz Korczak, der sagte: "Zu einem Kind muss man sich nicht herablassen oder hinunterbeugen, sondern man muss zu ihm hinaufschauen!" Das hat mich immer bewegt und in meinen Begegnungen mit Kindern und Jugendlichen geleitet.
DO: Karl, ich komme zum Abschluss: Was wünscht Du Dir für die Partnerschaft mit der Diözese Kanjirapally, was wären Projekte, die Dir besonders am Herzen liegen?
KH: Am meisten würde mir gefallen, wenn in unserer Diözese ein Ayurveda-Zentrum entstehen könnte. Ein Platz für Heilung an Seele und Leib, als Frucht der Partnerschaft. Und als weiteres Projekt hier in Kerala soll ein spirituelles Zentrum entstehen, vor allem aber das Heim für beeinträchtigte Kinder, "Angel´s Village", das wir in den Vordergrund stellen müssen und das des weiteren Ausbaus bedarf.
DO: Ich danke sehr herzlich für das Gespräch.
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