Zsifkovics: Gesellschaftliche Prioritäten überdenken
Traditionelle Festakademie zum Martinsfest im Eisenstädter "Haus der Begegnung" - Sozialethiker Neuhold: Entgrenzte Welt stößt an Grenzen und Kirche muss diese zu überbrücken helfen
Eisenstadt - Zum Überdenken der gesellschaftlichen Prioritäten und zur Neuentdeckung des Wesentlichen des Menschseins hat der Eisenstädter Bischof Ägidius Zsifkovics aufgerufen. Er konnte zur traditionellen Festakademie zum Martinsfest in Eisenstadt gemeinsam mit dem Präsidenten der Katholischen Aktion, Peter Goldenits, und dem neuen Leiter der Pastoralen Dienste der Diözese Eisenstadt, Richard Geier, zahlreiche Gäste aus Kirche und Politik begrüßen. U.a. waren auch die beiden emeritierten Bischöfe Paul Iby und Maximilian Aichern ins Eisenstädter "Haus der Begegnung" gekommen.
Traditionshaus feiert Jubiläum
Die Festakademie fand deshalb im "Haus der Begegnung" statt, weil dieses heuer sein 50-jähriges Bestehen als Bildungshaus der Diözese Eisenstadt begeht. Das Haus und seine Mitarbeiter stünden für den "Dienst an den drei großen Bs", wie Bischof Zsifkovics sagte. "B wie Begegnung, B wie Bildung und B wie Berufung. Diese 3 Bs brauchen wir auch in Zukunft dringend - in einer Welt, die zuviel an Nicht-Begegnung, zuviel an Ein-Bildung, zuviel an Working-poor statt echter Berufe und Berufungen bereithält." Es stimme zwar, "alle wollen angesichts des drohenden Kollapses unserer Welt zurück zur Natur - aber nur nicht zu Fuß". Begegnung, Bildung und Berufung könnten einen unbezahlbaren Beitrag dazu leisten, "unsere gesellschaftlichen Prioritäten neu zu überdenken und wieder zum Wesentlichen des Menschseins vorzudringen".
Kirche muss Grenzen überbrücken
Die große Aufgabe der Kirche, in einer entgrenzten Welt, die aber immer mehr an ihre Grenzen stößt, diese zu überbrücken, hat der Grazer Sozialethiker Prof. Leopold Neuhold in seinem Festvortrag thematisiert. Er ging dabei zuerst auf die bezeichnende Geschichte der Diözese Eisenstadt ein, die vor 60 Jahren gegründet wurde: Die Diözese am Eisernen Vorhang habe bald eine Brückenfunktion wahrgenommen. So konnten "auch in der Pflege von mitunter unscheinbaren, aber doch im Endeffekt kräftigen Pflänzchen der Beziehung über die Grenzen hinweg Veränderungsschritte, die die dichte Grenze aufbrachen, erreicht werden". Dazu hätten die alten Beziehungen zu den beiden ungarischen Ursprungsdiözesen Györ und Szombathely beigetragen sowie die Stützung und Unterstützung der Menschen, die nun in einer Verfolgungssituation leben mussten.
Erinnerung an Grenzzaun-Verweigerung
Neuhold erinnerte weiters an jenen Augenblick im Juni 1989, als die beiden damaligen Außenminister Alois Mock und Gyula Horn den Grenzzaun zwischen Österreich und Ungarn durchschnitten. Gut 25 Jahre später wurden wieder zahlreiche Stimmen laut, die einen neuen Grenzzaun forderten. Die Diözese Eisenstadt habe sich geweigert, im Südburgenland auf Kirchengrund einen Zaun zur Abwehr der Migranten errichten zu lassen, "auch aus Achtung vor denen, die Opfer des vormals undurchdringlichen Zauns gewesen waren". Dies alles sei freilich ein Hinweis darauf, "dass es wichtig ist, Grenzen abzubauen, sich zugleich aber auch die Frage zu stellen, wie Sicherheit und Geborgenheit erreicht werden können, ohne dass wir uns neu von anderen abgrenzen müssen".
Wenn neue Grenzen auf alte folgen
Mit dem Abbau von Grenzen allein sei noch nichts erreicht, unterstrich Prof. Neuhold Es bedürfe immer auch der Bemühung darum, sich zu vergegenwärtigen, wofür die Freiheit genutzt wird. "Sonst entstehen neue Grenzen, die bedrückender sein können als die abgebauten." Neuhold sprach von Angst, Unsicherheiten und Identitätverlust.
Der Sozialethiker erinnerte u.a. daran, dass nach dem Fall der Mauer und des Eisernen Vorhanges vor allem in den Hauptstädten der ehemaligen Ostblockländer Fahnen aufgetaucht seien, aus denen das Emblem von Hammer und Sichel herausgeschnitten war, also ein Loch in der Mitte prangte. Dieses Loch war ein Hinweis darauf, "dass die Begrenzung der kommunistischen Ideologie abgeworfen worden, aber noch nichts konkret darstellbares Neues an die Stelle getreten war".
Wer oder was füllt die Lücke?
Das Loch sei dann "einseitig mit einer kapitalistischen Ideologie gefüllt, mit dem Versprechen, durch Konsum sein Glück zu erreichen, oder mit zum Teil wertentleerten demokratischen Vorgangsweisen wie Wahlen usw. den politischen Prozess zu gestalten". Die Entgrenzung sei in der Folge verbunden gewesen mit einem Verlust einer orientierenden Weltanschauung, was dazu führte, dass man "vereinseitigenden materialistischen oder formaldemokratischen Konzeptionen" folgte. "Weil solche Gesellschaftskonzeptionen nicht oder nur zu einer einseitigen Entwicklung der Gesellschaft führen, vor allem viele Menschen außen vor bleiben, machte sich Unbehagen breit", so die Schlussfolgerung Neuholds: "Es braucht also Brücken, um Entgrenzungen nicht vorschnell an neue Grenzen zu führen."
Entgrenzter Individualismus
Der Grazer Sozialethiker machte auf einige Entwicklungen von Entgrenzungen aufmerksam, die nur wieder zu neuen Grenzen führten: Globalisierung, Individualisierung, Institutionalisierung, unbegrenzte Machbarkeiten oder auch Digitalisierung. Die Globalisierung über Wirtschaft, Finanzen oder Technik allein führe etwa zu neuen Ungleichheiten und Brüchen in der Weltgesellschaft. Ebenso gefährlich: Wenn sich Wirtschaft oder Politik von Mittel zum Zweck wandelten, dann gehe dies auf Kosten des Menschen. Dies führe zum "Verlust des wahren Lebenssinns", wie es etwa Papst Johannes Paul II. formuliert habe. Der Mensch werde nur mehr als Mittel und nicht mehr als Ziel angesehen.
Neuhold sprach weiters von einem "entgrenzten Individualismus" als Grenze für jede Solidarität. "Eine Entwicklung in unserer Gesellschaft zeigt sich als eine Entwicklung hin zu einem entgrenzten Ich, als Individualisierung und daraus folgend Singularisierung. Wenn der Einzelne alles ist, wird er einsam, weil er niemand neben sich selbst dulden kann." So erweise sich unbezogene Individualisierung als Begrenzung der Möglichkeiten vollen Menschseins.
Der entfremdete Mensch
Ein Zug der heutigen Zeit sei auch die Ausweitung von Institutionen und Bürokratie. Gefährlich werde es dann, "wenn Institutionen nicht mehr in ihrer Dienstfunktion am Menschen gesehen werden, sondern sich verselbstständigen und in der Entgrenzung ihrer Zuständigkeit im Selbstbezug enden".
In der Technikentwicklung zeige sich zudem ein Aspekt der Entgrenzung der Machbarkeit, "Dinge, die noch vor kurzem nicht für möglich gehalten wurden, sind heute Selbstverständlichkeit". In der Entgrenzung der Möglichkeiten komme es aber zu einem Druck auf den Menschen, das Mögliche auch zu verwirklichen, auch wenn das Menschliche dabei unterdrückt wird. Im Druck dieser Möglichkeiten werde der Mensch sich selbst entfremdet, fremdbestimmt. Neuhold: "Wenn das, was man kann, als Kriterium dafür gilt, was man darf, wird der Mensch zum Sklaven."
Eine Welt der Illusionen
Neuhold weiter: "In einer Illusion der unbegrenzten Möglichkeiten der Manipulation der Welt, in der Negierung von Grenzen des Wachstums haben wir die Erde an ihre Grenzen geführt." Der Klimawandel, von manchen noch in der Ideologie der Machbarkeit geleugnet, die Erderwärmung oder Wetterkatastrophen seien ein Hinweis darauf, "dass wir den Herrschaftsauftrag 'Macht euch die Erde untertan!' ohne die damit geforderte Verantwortung vor dem Schöpfer wahrgenommen haben." Eine Ausübung der Herrschaft über die Erde im Muster der Grenzenlosigkeit und der Verfügung führe zum Aufbau von sichtbaren Grenzen.
Und schließlich nannte der Sozialethiker noch die Digitalisierung, durch die eine Entgrenzung der Kommunikation möglich sei: "Wir können nahezu immer mit allen in Kontakt treten, Ort und Zeit können überwunden werden. Mit allen in allen Situationen verbunden zu sein, ist sie sich daraus ergebende Illusion. Das Gegenteil zeigt sich aber: In Filterblasen und Echokammern braucht man sich nicht mit der eigenen Meinung entgegengesetzten Anschauungen abgeben, gesellschaftlicher Dialog wird damit vereinseitigt und Brüche bilden sich aus."
Heimat als Ort und Ziel
Die Kirche müsse auf diese vielen Herausforderungen Antworten geben, so Neuhold. Hinsichtlich der Globalisierung bedeute dies etwa, Heimat zu schaffen. Dabei sei Heimat nicht das Bestehen auf einem begrenzt Eigenen, "sondern die Aufnahme der Verschiedenheit in einem Beziehen auf ein Verständlichmachen". Heimat bedeute nicht Enge, sondern Tiefe: "Tiefe der Beziehungen, des Verstehens, der Verantwortung. Dabei ist Heimat nicht nur der Ort, von dem wir kommen, sondern das Ziel auf das wir hingehen. Aus solchem Verständnis heraus kann auch Ökumene gestaltet werden, Ökumene aller Kirchen. Heimat ist damit nicht nur der Ort, von dem wir kommen, sondern wesentlich auch das Ziel, auf das wir hingehen."
Die Kirche müsse zudem Beispiel geben für gelingendes menschliches Leben: "Natürlich kann und soll dieses Suchen geleitet sein durch den Hinweis auf Modelle geglückten menschlichen Lebens, wie wir sie in der reichen Tradition der Bibel und der Kirche finden. Kirche ist gerufen, sich leidenschaftlich für den Menschen und alle Menschen einzusetzen."
Das Wesen der Person
Angesichts der Konzentration auf den Einzelnen sei es zudem wesentlich, auf die Tatsache hinzuweisen, "dass Person im Eigenstand, aber auch in der Beziehung zu anderen gründet". Es gehe dabei nicht nur um eine Solidarität auf berechnender Gegenseitigkeit, sondern um eine im Angesicht des anderen als Bild Gottes gründende Nächstenliebe. Vor der Gefahr, das Mittel mit dem Zweck zu verwechseln, sei dabei auch die Kirche nicht gefeit, machte Neuhold aufmerksam: "Verwechselt man Mittel mit Ziel, wird der Mensch nur zu leicht sich selbst entfremdet - und die Institution trägt zu dieser Entfremdung bei. Solches zeigt sich etwa in einer Klerikalisierung in der Kirche, in der Ziele der Kirche, wie man sie versteht, den Bedürfnissen und dem Dienst am Menschen vorgeordnet werden. Kirche zeigt sich erst im Bezug auf den und im Dienst am Menschen heilbringend."
Grenzen der Machbarkeit
Die Kirche müsse dafür stehen, dass es Grenzen der Machbarkeit gibt, diese aber nicht zugleich Grenzen bzw. das Ende des Menschseins seien. Neuhold: "Die Kirche kann im Bezug auf ihren Gründer Jesus Christus zeigen, dass der Mensch nicht nur dort Mensch ist, wo er leistet und Grenzen hinausschiebt, sondern auch dort, wo er Grenzen wahr- und ernstnimmt, Erkenntnis als Anerkenntnis zu gestalten sucht."
Die Herrschaft über die Erde sei Herrschaft im Auftrag und damit in Verantwortung dem Schöpfer gegenüber. Damit wird die Erde nicht in erster Linie in ihrem Gebrauchswert gesehen, sondern vor allem auch in ihrem Eigenwert als dem ihr vom Schöpfer zugewiesenen Platz. In der Verbindung von ökologischer Frage und sozialer Frage werde die Beschränkung der ökologischen Ausbeutung zu einer Entgrenzung der Nächstenliebe.
Auffrischung für Domkapitel
Abgeschlossen wurde die Festakademie mit einem traditionellen burgenlandkroatischen Volkslied, dass Bischof Zsifkovics selbst anstimmte. Seinen Ausklang fand das heurige Martinsfest im Anschluss an die Festakademie mit einer Vesper mit Kindersegnung im Martinsdom. Dabei wurden auch Bischofsvikar Zeljko Odobasic (Kroatisches Vikariat) als Domkapitular und Generalvikar Martin Korpitsch als Dompropst installiert. Das Martinsfest war zugleich auch der Auftakt für das Jubiläumsjahr "60 Jahre Diözese Eisenstadt". Höhepunkt des einjährigen Jubiläumsjahres ist ein großes Fest am 1. Juni (Pfingstmontag) in Eisenstadt. Abgeschlossen wird es mit dem Martinsfest 2020 (11. November).