Zsifkovics warnt vor "Sprachmasken politischer Quarantäne"
"Weltkriegs-Gedenken ohne Europa-Gedanken ist ein höflicher, aber musealer Akt" – Nötige Erinnerung an Tragödie Europas in Zeiten des Nationalismus – Wiedererstehung Österreichs 1945 nicht ohne Neuordnung der Welt und Europas begreifbar – Appell, rasch wieder auf den gemeinsamen europäischen Weg zu finden
Eisenstadt 27.04.2020 – Am 75. Jahrestag der Beendigung der NS-Herrschaft und der Proklamation österreichischer Selbständigkeit durch die provisorische Staatsregierung erinnert der für die Europa-Agenden zuständige Bischof innerhalb der Österreichischen Bischofskonferenz an die große Neuordnung der Welt nach 1945. Die jetzige Pandemie als "wohl kollektivstes europäisches Schmerzerlebnis seit jenen Tagen" ermögliche zwar einen feierlichen Rückblick mit "Zügen echter Empathie". Doch das nationale Ge-Denken müsse zu verantwortungsvollem Denken im Hinblick auf Europa führen, so der Eisenstädter Bischof im Gespräch mit dem Pressesprecher der Diözese Eisenstadt, Dominik Orieschnig.
Warnung vor "Sprachmasken politischer Quarantäne"
Das "neue Kapitel für das Land", das die österreichische Bundesregierung mit ihrem heutigen Festakt zum Start ins 76. Jahr nach Kriegsende aufschlagen will, werde hoffentlich auch, so Zsifkovics, "von einem neuen Kapitel mit und in der Europäischen Union" begleitet werden: "Das hängt stark von der Haltung Österreichs zu den unverzichtbaren Werten und Institutionen der Europäischen Union ab, aber natürlich ebenso auch von der Haltung aller anderen EU-Staaten", so Zsifkovics. Es sei fatal, "wenn die Pandemie nun langfristig dazu führen sollte, dass die Staaten nach ihren teils verständlichen Alleingängen in der Virusbekämpfung dauerhaft die Sprachmasken national-politischer Quarantäne aufbehalten." Zsifkovics hatte vor wenigen Wochen im ORF-Interview zwar ein zu unentschlossenes Handeln der EU (sowie der WHO) in der Pandemie eingeräumt. Umso wichtiger sei es jetzt, "rasch auf den gemeinsamen europäischen Weg zurückzufinden – bei der dauerhaften Bekämpfung der Pandemie und ihrer desaströsen wirtschaftlichen Folgen, aber auch bei den noch immer nicht gemachten europäischen Hausaufgaben in der Flüchtlingskrise", so der Bischof. Denn: "Die Bilder der kenternden Flüchtlingsboote und der vollgepferchten Camps sind immer noch da – sie werden derzeit nur weniger gezeigt. Wir müssen schnell wieder raus aus der nationalen Corona-Ecke und die Ohren öffnen für die Hauptmelodie unseres Kontinents!"
Nationales Interesse und die Tragödie Europas
Es sei wichtig und auch die logische Aufgabe der jetzigen Bundesregierung, wie von Kanzler Sebastian Kurz angekündigt, Menschen in Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit wieder rasch in volle Beschäftigung zu bringen. "Doch vergessen wir nicht die größere europäische Dimension, die vielfältigen und unverzichtbaren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Beziehungen zu unseren Nachbarn, aber auch die Solidarität mit ihnen!", so der österreichische Europabischof. Zsifkovics erinnerte an die mahnenden Worte von COMECE-Präsident Kardinal Jean-Claude Hollerich. Der Vorsitzende der Kommission der Europäischen Bischofskonferenzen hatte vor kurzem gemeint, dass fehlende Solidarität die EU "tödlich verwunden" könne und die Bewältigung der Pandemie "die letzte Chance sein (könnte), die dem europäischen Projekt gegeben wird". Zsifkovics: "Ich hoffe und bete, dass das keine Prophezeiung gewesen ist!"
Zsifkovics fordert "neuen Marshall-Plan" für Europa nach der Krise
Es brauche nun "so etwas wie einen neuen Marshall-Plan für Europa nach der Krise. Vergessen wir nicht: Der Kern der von George Marshall (Anm.: US-Außenminister und Friedensnobelpreisträger des Jahres 1953) ins Leben gerufenen Idee war immer die Vorstellung, dass die jahrhundertelang von Kriegen und Nationalismen gebeutelten Europäer ihr eigenes europäisches Programm entwickeln. Die Sicherung amerikanischer Interessen kam natürlich hinzu. Was wir jetzt auf unserem Kontinent brauchen, ist ein neues, aus unserer eigenen Mitte kommendes Solidaritätsprojekt der Länder des Nordens mit jenen Südeuropas, getragen von Vernunft und Fairness, nicht von Druck oder Nötigung. Ich bin überzeugt: Ein solches Programm wird am Ende allen dienen!"
"Vorzügliches Heilmittel Europa"
Doch auch einen anderen großen Namen aus Europas dunkelsten Stunden erinnerte der Eisenstädter Bischof am heutigen Tag: Winston Churchill. "Sein Verdienst um die Herausbildung des europäischen Gedankens, um die Verbreitung der Idee und des Ideals Europa, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Umso tragischer erscheint es mir im Lichte der derzeitigen Brexit-Malaise!", so Zsifkovics. "Churchill hat in seiner berühmten Züricher Rede nach dem Krieg vom babylonischen Sprachgewirr der Sieger und vom verzweifelten Schweigen der Verlierer gesprochen. Er erkannte in einer Neuschöpfung der europäischen Völkerfamilie ein vorzügliches Heilmittel – es ist die heutige EU, mit all ihren Stärken und Schwächen." Hier sieht Zsifkovics die Geburtsstunde eines friedlichen Europa: "Churchill sagte das angesichts eines in Schutt und Asche liegenden Kontinents, zu dem auch damals unser schwer gezeichnetes Österreich gehörte. Die jetzige Pandemie ist wohl das kollektivste europäische Schmerzerlebnis seit jenen Tagen. Ich glaube, es ermöglicht uns in Österreich am heutigen Tag einen feierlichen Rückblick mit ein paar Zügen echter Empathie für das, was vor 75 Jahren geschah. Doch das nationale Ge-Denken muss zu verantwortungsvollem Denken im Hinblick auf Europa und seine Friedenssendung führen. Europa bedeutet für mich das Gegenteil von Krieg, Not und Verzweiflung. Ein kranzbewehrtes Weltkriegs-Gedenken ohne Europa-Gedanken ist daher ein höflicher, aber musealer Akt."