"Flüchtlinge und ihre Not sind unsere besten Lehrer!"
Eisenstädter Bischof sieht in Flüchtlingskrise größere "Krise der Menschheit" – Dank an Papst Franziskus für dessen Erinnerung an das "göttliche Angebot" zur Lösung der Krise – Zsifkovics: Gerade heute sind Eucharistie und Hostie "glühendes Zentrum einer Liebe, die das einzelne menschliche Herz auf die Maße und Nöte der ganzen Welt weiten will"
Eisenstadt – In einem vor seiner aktuellen Corona-Erkrankung aufgezeichneten Gespräch mit Diözesansprecher Dominik Orieschnig nimmt der Eisenstädter Bischof Ägidius J. Zsifkovics ausführlich Stellung zum bevorstehenden 107. Welttag des Migranten und Flüchtlings, der am 26. September 2021 begangen wird. Dabei rückte Zsifkovics, der in der Österreichischen Bischofskonferenz die Themen Migration, Flucht und Asyl sowie die Europathemen verantwortet, die diesjährige Welttag-Botschaft von Papst Franziskus in den Fokus. Er verknüpft sie mit dem "universellen und zentralen Wert" der Eucharistie und erinnert dabei an einen der großen Vordenker der Katholischen Kirche im 20. Jahrhundert: Pierre Teilhard de Chardin. Dessen "geistige Hintergrundstrahlung" vermutet Zsifkovics auch in der aktuellen Botschaft des Papstes.
Die große Entscheidung: Zersplitterung oder Solidarität
Bischof Ägidius J. Zsifkovics, den gerade selbst eine Corona-Erkrankung zur längeren Pause zwingt, hat in einem jüngsten Gespräch die weltweite Pandemie als "ungewollte, aber hoffentlich heilsame Nachdenkpause für eine in rasendem Stillstand begriffene Welt" bezeichnet. Mit rasendem Stillstand meint Zsifkovics "eine in allen Lebensbereichen anzutreffende Getriebenheit, die zum Selbstzweck wird und von einem zentralen Momentum menschlicher Gier ausgeht. Eine wirtschaftlich völlig pervertierte Weltordnung, in der sich eine Mehrheit der Ressourcen in den Händen einer Minderheit befindet, bedeutet menschlichen und moralischen Stillstand. Sie muss früher oder später zu gravierenden planetaren Konflikten führen", so Zsifkovics.
Die sogenannte Flüchtlings- und Migrationskrise sei dabei laut Zsifkovics zum Teil eine verklausulierte Bezeichnung für "eine veritable Menschheitskrise, die immer mehr vor unsere eigene Haustüre rückt. Wie konnten wir nur so lange glauben, unser überzogener Wohlstand und die Ausbeutung anderer Weltgegenden durch europäische und internationale Konzerne würde ohne Kosten bleiben?", so der Bischof. Und: "Individuelles Verhalten, egal in welche Richtung, zeitigt in einer vernetzten Welt immer mehr Auswirkungen auf alle anderen. Es scheint fast so, als ob die postmodern so gerne als altmodisch bezeichneten christlich-jüdischen Gebote plötzlich der Sphäre individuell-religiöser Verbindlichkeit entzogen und zum realen Überlebensprogramm eines verwundeten Planeten würden". Dementsprechend sei zu hoffen, "dass die derzeitige Gesundheitskrise ein globales Nachdenken über die eigentliche Krise nach sich zieht. Wir müssen eine große Entscheidung treffen: Zersplitterung oder Solidarität. So gesehen sind die Flüchtlinge, die in ihrer Not an die Türen unseres einzementierten Lebensstils klopfen, die besten Lehrer."
Dank an Papst für prophetisches Wort zu Flucht und Migration
Ausdrücklich dankt Zsifkovics Papst Franziskus für dessen bereits Anfang Mai erschienene Botschaft zum 107. Welttag des Migranten und Flüchtlings am 26. September 2021. Im Zentrum des päpstlichen Schreibens stünde die Erinnerung an ein großes Angebot, so Zsifkovics, "dessen Nachfrage nicht an den weltweiten Börsen handelbar ist, sondern einzig und allein Gegenstand des menschlichen Herzens ist", so Zsifkovics unter Bezugnahme auf das von Papst Franziskus in den Mittelpunkt gerückte "göttliche Angebot eines Weges der Versöhnung. Papst Franziskus erinnert uns an diesem Wendepunkt der Geschichte daran, dass dieses Angebot, sich dem Anderen zuzuwenden, nicht an einzelne Individuen, sondern an die ganze Menschheitsfamilie erging. Im Zentrum dieses Angebots steht das Geheimnis Christi, der gestorben und auferstanden ist, damit wir Menschen zur Einheit finden. Doch die aktuellen Herausforderungen zeigen uns schmerzhaft, dass diese gottgewollte Menschheitsfamilie massiv beschädigt ist. Pandemie und Umweltthemen offenbaren weltweit den Reflex zum nationalen Alleingang, zum Egoismus, zur Zersplitterung, die das Ego vor das Wir setzt", so der Eisenstädter Bischof. Zsifkovics zitiert wörtlich den Papst: "Und den höchsten Preis zahlen diejenigen, die besonders schnell als Andere gelten: die Ausländer, die Migranten, die Ausgegrenzten, all jene, die an den existentiellen Rändern leben."
Zsifkovics bekräftigt uneingeschränktes "Ja!" zur Hilfe für Menschen auf der Flucht
Die gegenwärtigen Migrationsbewegungen und ihr Zusammentreffen mit Aufnahmegesellschaften in Europa seien laut Zsifkovics "Hotspots der Fremderfahrung wie der Selbsterfahrung, die uns Gelegenheit geben, unseren Lebensstil insgesamt zu hinterfragen - und den zivilisatorischen Stillstand zu überwinden!". Es gelte trotz aller Populismen immer noch uneingeschränkt die Haltung der Kirche zur Aufnahme von Flüchtlingen, auch in Österreich. Wir haben, so der Eisenstädter Bischof "keine technischen Lösungen anzubieten und beanspruchen auch keineswegs, uns in staatliche Belange einzumischen. Aber die Kirche hat zu allen Zeiten und unter allen Gegebenheiten eine Sendung der Wahrheit zu erfüllen für eine Gesellschaft, die dem Menschen und seiner Würde und Berufung gerecht wird. Dementsprechend sind wir bereit, den zu uns Kommenden, vor allem den am meisten Bedürftigen, Hilfe und Beistand zu leisten, und zu ihrer Integration in die Gesellschaft mit den Behörden der Gastländer zusammenzuarbeiten." Zsifkovics hatte diese Haltung bereits im Dezember 2015 als damaliger europaweiter Migrationsbeauftragter in einem Positionspapier für die ComECE (Kommission der EU-Bischofskonferenzen) formuliert, das als Vademecum für die europäischen Institutionen Verbreitung fand. Heute, ein halbes Jahrzehnt später, erscheint ihm das Migrationsthema lediglich als Vorbote einer "drohenden Menschheitskrise, deren vernetzte Prozesse immer schneller ablaufen", so der Eisenstädter Bischof.
Zsifkovics fordert in Krise Rückbesinnung auf einen großen Denker der Kirche
Zsifkovics erinnert in diesem Zusammenhang an das geistliche Vermächtnis des 1955 verstorbenen Jesuiten, Paläoanthropologen, Theologen und Zukunftstheoretikers Pierre Teilhard de Chardin (geboren 1881). Teilhards Schriften waren lange Zeit von der offiziellen katholischen Kirche kritisch gesehen worden, etwa wegen seiner Integration der Evolutionstheorie in das klassische, aristotelisch-thomistische Lehrgebäude der Kirche. Noch sieben Jahre nach seinem Tod erklärte der Vatikan, die theologischen und philosophischen Texte Teilhard de Chardins enthielten schwere Irrtümer bezüglich der katholischen Glaubenslehre. Das Heilige Offizium – die heutige Glaubenskongregation – warnte vor seinen Texten, deren Lektüre in katholischen Bildungseinrichtungen lange Zeit verboten war.
Doch die Zeit, der der Weltbürger und Forscher Teilhard stets weit voraus war, scheint sich mittlerweile ihm angenähert zu haben, auch innerhalb der Katholischen Kirche: Papst Franziskus, der selbst dem Jesuitenorden angehört, zitierte Teilhard de Chardin in seiner Enzyklika "Laudato si" aus dem Jahr 2013. Und auch die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. hatten sich in ihren Aussagen auf Teilhard bezogen, letzterer, als Josef Ratzinger, bereits in seiner mittlerweile zum Klassiker avancierten "Einführung in das Christentum" von 1968. Doch auch Ägidius Zsifkovics selbst hat im Rahmen der Weltbischofssynode 2014 in einem aufsehenerregenden Intervent das Vermächtnis Teilhards vor der Weltkirche in Erinnerung gerufen. Offensichtlich nicht, ohne Gehör zu finden: 2017 regte der päpstliche Kulturrat eine (derzeit noch ausstehende) offizielle Rehabilitation Teilhards an mit dem Ziel, dessen Bemühungen zu würdigen, die Sicht der Wissenschaft auf das Universum mit der christlichen Weltsicht zu versöhnen. Darüber hinaus könnten sie für den Kulturrat ein Impuls für "alle Theologen und Wissenschaftler guten Willens" sein, gemeinsam an einem christlich-anthropologischen Modell im Sinne des Papstschreibens "Laudato si" zu arbeiten.
Vom Menschen zur Menschheit - mit der Kraft der Eucharistie
Bischof Zsifkovics ortet dementsprechend eine weiter andauernde Neuentdeckung der Kirche eines ihrer hellsten und modernsten Köpfe: "Dass die aktuelle Botschaft von Papst Franziskus zum Welttag des Migranten und Flüchtlings den Titel ‚Auf dem Weg zu einem immer größeren Wir’ trägt, ist für mich kein Zufall. Der ganze Text atmet die dynamische Theologie und Weltsicht Teilhards, der die biologische und soziale Evolution schon früh als den Weg von der Materie und vom Leben hin zum Menschen und vom einzelnen Menschen hin zur Menschheit erkannte. Papst Franziskus kennt diese Texte und scheint von ihnen inspiriert", so Bischof Zsifkovics im Gespräch mit Dominik Orieschnig.
Der Bischof erinnert in diesem Zusammenhang auch an die stark eucharistische Frömmigkeit Teilhards de Chardin, der beim wegweisenden Versuch, priesterliche mit wissenschaftlicher Identität zu verbinden, den Gehalt der konsekrierten Hostie als eine "ganz reale Größe" mit "grundlegendem Platz in der Ökonomie der Welt" bezeichnet hatte. Teilhard, ein Mann von mystischer Begabung, war überzeugt: So wie sich Christus bei der Eucharistie in der Hostie manifestiere, so weite sich seine Präsenz über den Menschen physisch weiter aus auf eine schrittweise Vergöttlichung des Universums. Alles fromme Interpretation? "Keineswegs", so Zsifkovics, "denn die Kommunion gibt dem gläubigen Menschen die Kraft, alle Illusionen eines engen Individualismus abzuwerfen und sich offen und ehrlich einem Wir zuzuwenden".
Besonders deutlich sei ihm dies beim kürzlich zu Ende gegangenen Eucharistischen Weltkongress in Budapest "eingeschossen", an dem Zsifkovics als offizieller Vertreter der Österreichischen Bischofskonferenz teilgenommen hatte. Bei einer deutschsprachigen Messe in Budapest im Rahmen des Weltkongresses hatte der Bischof im Gespräch mit Kathpress betont, dass Abendmahl und Fußwaschung zusammengehören: "Wer die Eucharistie empfängt, der verpflichtet sich gleichsam zum Dienst am Nächsten, vor allem an den Armen, an den Kleinen, an den Schwachen und Notleidenden", hatte Zsifkovics erinnert. In der heutigen Gesellschaft, gespalten und weltweit gezeichnet von der Pandemie, müssten Christen Gottes Gegenwart in der Eucharistie auch im Alltag wieder leben. Die Gleichgültigkeit Gott gegenüber mache auch den Menschen gegenüber gleichgültig. "Schauen wir deshalb wieder auf die Eucharistie, vor allem in der Anbetung", rief Zsifkovics in Budapest auf. Ohne Tabernakel, ohne die Gegenwart Gottes in unseren Kirchen würden diese zu frommen Veranstaltungsräumen und Museen umfunktioniert werden. Das Heilige, die Mitte der Kirche, das Herzstück, wäre genommen.
Damit aber habe die Eucharistie auch universellen und zentralen Wert für den Zukunftsweg der Menschheit - "ein Wert, den Teilhard de Chardin mit seiner unvergleichlichen Kraft von Erkenntnis und Sprache zum Ausdruck gebracht hat. Die Hostie, so klein und unscheinbar sie auch ist, ist glühendes Zentrum einer Liebe, die das einzelne menschliche Herz auf die Maße und Nöte der ganzen Welt weiten will. Wissenschaftlicher Erfindungsgeist oder technologischer Fortschritt allein können diesen Prozess der Menschwerdung, der jetzt von uns allen verlangt wird, nicht ersetzen", so Zsifkovics zum Abschluss des Gesprächs.
Bischof Ägidius Zsifkovics wurde am Montag positiv auf das Corona-Virus getestet uns befindet sich seither mit Symptomen einer schweren Grippe in häuslicher Quarantäne.