
Räumt die Steine weg
Etwas früher Unvorstellbares formulierte Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch in der römischen Synagoge: „Ihr seid unsere älteren Brüder!“ Wir haben eine gemeinsame Quelle des Glaubens durch die Bücher des Ersten Testaments. Das Neue Testament ist ohne das vorangehende gar nicht verstehbar. Wie sehr es den Evangelisten darum ging, das jüdische Umfeld Jesu zu skizzieren, zeigt uns sehr anschaulich die vor wenigen Tagen in unseren Kirchen und Häusern verlesene Geburtserzählung nach Lukas. Seine Leser sollen erkennen, aus welcher Welt Jesus stammt, wo seine Wurzeln liegen, von wo her er zu verstehen ist. Elisabeth, Zacharias, Maria und Josef, Hanna und Simeon, Jerusalem und Bethlehem, das Haus David, die Familie, die Krippe, die Viehweide, der Tempel und die Herberge, die Hirten und Pilger, die Engel. Es sind die zentralen Institutionen des Judentums, mit denen Jesus von Kind auf vertraut ist. Es ist das Wort prophetisch begabter Menschen, das über seinem Lebensweg gesprochen wird. Es sind die spirituellen, mystischen und kultischen Glaubenserfahrungen des Gottesvolkes Israel, an denen er Anteil nimmt, indem er in Bethlehem geboren wird.
Zahlreiche Anknüpfungspunkte
Zwischen dem Judentum und dem Christentum gibt es zahlreiche Anknüpfungspunkte. Beide Religionen verbindet eine gemeinsame Heilige Schrift, der größte Teil der Bibel, den wir Christen „Altes Testament“ nennen. Von größter Bedeutung – und vielen Christen noch zu wenig bewusst – ist die Tatsache, dass Jesus, seine Familie, wie die meisten seiner Jünger, ausnahmslos Juden waren. Leider ist die Geschichte der Beziehung zwischen Christen und Juden eine Kette ständiger Konfrontationen, wobei Christen große Schuld auf sich luden, weil sie sich nicht dagegen gestellt haben, als jüdische Menschen entwürdigt, verfolgt und vernichtet wurden. Im christlich-jüdischen Dialog geht es darum, verdeckte christliche Vorurteile gegenüber dem Judentum bewusst machen, mögliche Zerrbilder, die nicht dem jüdischen Selbstverständnis entsprechen, zu revidieren und Ansätze einer Theologie, die das Judentum als „Mutterreligion“ respektiert, zu finden.
Vom Judentum lernen
Wir Christen können vom Reichtum jüdischer Tradition und der existenziellen Tiefe jüdischer Gotteserfahrung viel lernen. Die Begegnung mit dem Judentum ermöglicht uns, unseren eigenen Glauben in einem neuen, vielleicht ungewohnten Licht zu sehen und Impulse für eine bessere Gerechtigkeit und eine treuere Erfüllung des Willens Gottes zu erhalten. Seit dem II. Vatikanischen Konzil versuchen Christen und Juden aufeinander zuzugehen und in einen partnerschaftlichen Dialog zu treten. Von Erfolg können diese Gespräche nur dort gekrönt sein, wo sich Christen zu ihrer Vergangenheit bekennen und Wege nach vorn in eine bessere Zukunft suchen.
Ich bin Joseph, euer jüngerer Bruder ...
Wohl viele Menschen haben in den letzten Wochen in den Medien verfolgt, wie ein alter, von Krankheit gezeichneter, jedoch von einer eisernen Willenskraft angetriebener Papst aufgebrochen ist, um als Pilger ins Hl. Land zu reisen. Mit leisen Worten ist Johannes Paul II. nach Israel gekommen, aber mit großen Gesten. Eindeutig fielen seine Worte als Absage an den Antijudaismus aus. Unvergessen auch seine Worte beim Besuch der großen Synagoge in Rom (dem ersten Besuch eines Papstes überhaupt): „Die jüdische Religion ist für uns Christen nicht etwas Äußerliches, sondern gehört zum Inneren unseres Glaubens. Die Juden sind unsere bevorzugten Brüder.“
Das „Haus der Begegnung“ hat einen Schwerpunkt in seinem Programm gesetzt, der sich mit den jüdischen Quellen des Christentums beschäftigt, wie Rektor Trinko bei einem Vortrag des Grazer Ordinarius für alttestamentliche Bibelwissenschaft, Univ.-Prof. Dr. Johannes Marböck, über die Wurzeln des Christentums im Alten Testament, betonte. Marböck sieht das Alte Testament als Stück der Heilswerdung und der Hinwendung Gottes zu den Menschen, wobei nicht die Strafe und das Gericht das letzte Wort seien, sondern die Barmherzigkeit Gottes.
Paulus warnt vor Überheblichkeit
Schon im Römerbrief (Röm 11, 18) warnt Paulus die Gemeinde in Rom vor jeder Überheblichkeit gegenüber den Juden: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich!“ Israel ist der Ölbaum, in den die Christen als Zweige eingepfropft sind. Es ist wohl nicht allen Christen bewusst, wie sehr unsere Liturgie dem jüdischen Gottesdienst entspricht: Lesungen und Psalmen im Wortgottesdienst, die Gebete zur Gabenbereitung, ja selbst Elemente des Hochgebetes sind teilweise identisch oder gehen auf alttestamentliche Texte zurück. Auch Segensgesten wie Handauflegen und selbst große Feste wie Ostern oder Pfingsten sind jüdischen Ursprungs.
Ökumene verlangt Sensibilität
Marböck unterstrich, dass die Ökumene zwischen Juden und Christen ein hohes Maß an Sensibilität verlange. So sei äußerste Behutsamkeit bei exponierten Persönlichkeiten wie etwa Edith Stein geboten, die von der Katholische Kirche heiliggesprochen wurde. Sie ist aber wegen ihrer jüdischen Abstammung in Ausschwitz ermordet worden, und nicht wegen ihrer christlichen Überzeugung. Nur aus diesem Blickwinkel heraus kann man verstehen, dass eine Instrumentalisierung Steins von jüdischer Seite nicht goutiert und als Vereinnahmung durch eine andere Religion empfunden wird.
In Erinnerung wird vielen noch der jahrelange Streit zwischen jenen Karmelitinnen in Polen sein, die ein Kloster neben dem ehemaligen Konzentrationslager Ausschwitz errichtet hatten, was von jüdischer Seite als pietätloser Affront gesehen wurde. Nur durch ein Machtwort des Papstes konnten die Ordensfrauen zum Rückzug bewogen werden. Marböck erinnerte in dem Zusammenhang an ganz wichtige Reflexionen des jetzigen Papstes zur Schoah.
Unchristliche Regelklischees, die Israel, das Alte Testament oder das Judentum abqualifizieren, müssen abgebaut werden. Vieles sei so sehr im Unterbewusstsein verankert, dass es uns gar nicht bewusst sei, wie etwa das Wort „Pharisäismus“ als Ausdruck scheinheiliger Frömmigkeit. Verantwortlich solle auch mit judenpolemischen Texten aus dem Neuen Testament umgegangen werden. Durch die Trennung der frühchristlichen Gemeinden von den Synagogen hätten viele solche Textstellen Eingang in die Schriften des Neuen Testamentes gefunden. Vorsicht sei auch bei der dramatischen Darstellung der Passion Jesu in der Karwochenliturgie geboten. Wer hier Fingerspitzengefühl entwickelt, wird vielleicht manche Worte umstellen, um unsere Pfarren für einen respektvollen Umgang mit unseren „älteren Brüdern“ zu sensibilisieren.
Johannes XXIII. hat die Fürbitte von den „treulosen Juden“ aus der Karfreitagsliturgie gestrichen. Und einer Gruppe amerikanischer Juden hat er sich als „Joseph, euer jüngerer Bruder“ vorgestellt.
Jesus – der Sohn Davids
Das Alte Testament ist das Fundament und die Voraussetzung für die frühen Christen bis weit ins 2. Jahrhundert hinein. Jesus selbst kommt aus dem Judentum, er betet aus der Bibel Israels, seines Volkes und zitierte mit Vorliebe Jesaja. Er deutet sich als den „leidenden Gottesknecht“ und stellt sich in eine Reihe mit den Propheten des Alten Bundes. Von seinen Jüngern wird er als der davidische Gesalbte gesehen. Auch in der trockenen Liste des Stammbaumes bei Matthäus steckt die theologisch höchst bedeutende Aussage, dass Jesus der Sohn Davids ist, in einer Reihe von Menschen mit ihren Dunkelheiten und Menschlichkeiten, – und kein Meteorit, der vom Himmel fiel.
Eine schöne theologische Deutung findet sich am berühmten Bamberger Tor: die Apostel stehen auf den Schultern der alttestamentlichen Propheten. Das Neue Testament kann sein Messiasbild erst vom Alten Testament her entfalten. Im Alten Testament findet sich ein reicher religiöser Erfahrungsschatz von mehr als tausend Jahren. Hier finden wir die spannungsreiche Wirklichkeit des verborgenen und zugleich sich offenbarenden Gottes. Unsere christliche Frömmigkeit, die bisweilen Gefahr läuft, auszuufern, kann von der Realität des Alten Testaments viel lernen. Wir begegnen einem Gott, der sich leidenschaftlich für sein Volk interessiert. Seine zwei fundamentalen Fragen an den Menschen stehen am Anfang von Genesis: Wo bist du? und Wo ist dein Bruder?
Das intensivere Lesen der Bücher des Alten Testamentes kann viel zum besseren Verständnis und zu einer neuen Bewusstseinshaltung gegenüber dem Judentum beitragen.
Bernhard Dobrowsky