Tief verschneit lag das kleine Dorf im Winterschlaf. Nach Jahren begrüßte es den Heiligen Abend wieder einmal in Weiß. Die Bäume hatten schwer an dieser Last zu tragen und doch freute sich Mensch und Natur über dieses prächtige Festkleid.
Den Berg hinauf zum Kirchlein bewegte sich langsam eine Menschenschlange. Einzelne Laternen leuchteten in die Dunkelheit. Bei der Krippenandacht wollte keiner fehlen. Ein Heiliger Abend ohne Gottesdienst war doch keine richtiger Heilig Abend und dieses Wetter lud sowieso zu einem Winterspaziergang ins Freie ein. Nur Einer konnte nicht dabei sein, und das war Rudi. Beim Schlittschuhlaufen hatte er der allzu dünnen Eisdecke vertraut und war eingebrochen. Nun lag er mit einer starken Erkältung im Bett. Etwas traurig war ihm schon zumute als Eltern und Geschwister sich auf den Weg zur Kirche machten. Gerade in diesem Jahr sollte er den Weihnachtsengel spielen. Fleißig hatte Rudi geübt. Seit Jahren freute er sich auf diese Rolle, die nur den Großen vorbehalten war, nun bekam sie Kurt und er musste daheim im Bett bleiben. Traurig lag er in seinen Kissen. Er träumte vor sich hin und sah sich im Engelskostüm in der Kirche stehen. |
Plötzlich sah er einen hellen Schein am Fenster. „Wer war das? Waren die Eltern schon zurück vom Gottesdienst?" Rudi lauschte in die Dunkelheit. „Seltsam", dachte er „das Licht scheint von oben zu kommen". Neugierig schlich er ans Fenster. Trotz der Kälte öffnete er es einen Spalt. So, nun konnte er ins Freie blicken. Vom Himmel kam ein heller Schein direkt auf ihn zu. Kam näher und näher. Erst hielt es Rudi für einen Stern oder ähnliches. Dann aber sah er es immer deutlicher: „Es war ein Engel!" Rudi war so gefesselt von dieser Erscheinung, dass er nicht in der Lage war sich zu bewegen. Der Engel kam genau auf ihn zu und landete auf dem Fensterbrett. „Guten Abend Rudi! Ich bin der Weihnachtsengel", begrüßte er diesen „Vor über 2000 Jahren verkündete ich den Hirten die frohe Botschaft, dass im Stall von Bethlehem ein Kind geboren sei, Jesus, Gottes Sohn." „Guten Abend" stotterte jetzt Rudi. „Jedes Jahr zum Heiligen Abend sehe ich mich auf der Welt um. So erfuhr ich, dass du so gerne einmal der Weihnachtsengel sein wolltest, heute aber im Bett liegen musst. So dachte ich mir, du würdest dich freuen, mich persönlich kennen zu lernen." Rudis Wangen waren rot, wie ein Weihnachtsapfel, so strahlte er vor Freude. „Komm", forderte ihn der Engel auf „ich bedecke dich mit meinen Schwingen und du wirst die wahre Weihnacht kennen lernen." Rudi ging etwas auf den Engel zu und schmiegte sich an ihn. Furcht hatte er schon lange nicht mehr. Er fühlte sich geborgen zwischen den Flügeln des Engels.
Geblendet schloss er die Augen und erlebte die Weihnacht von einst:
Er war in Bethlehem, stand zwischen Ochs und Esel an der Krippe und sah das Jesuskind. Er war dabei als die Hirten mit den Schafen zur Krippe kamen und lernte die Heiligen Drei Könige kennen. Mitten in das wunderbare Erlebnis hinein, sprach ihn der Engel an „Rudi komm, steig in dein Bett, ich werde dich sanft zudecken. Gleich kommen deine Eltern nach Hause und ich habe noch einen weiten Weg vor mir". Wie benommen legte sich Rudi ins Bett. Als etwas später die Geschwister ins Zimmer stürmten um von der Krippenandacht zu berichten, schwieg Rudi stille. Was er erlebt hatte war so groß, so wunderbar, dass er es ganz allein für sich behalten wollte. „Im nächsten Jahr bekomme ich bestimmt die Rolle des Weihnachtsengels" dachte er noch als er bereits mit den Eltern und Geschwistern vor dem geschmückten Tannenbaum stand.
Autor: Christina Telker (etwas gekürzt)