Predigt zur Christmette 2018
Liebe Schwestern und Brüder!
Liebe Diözesanfamilie, hier im Dom und überall dort, wo Sie über Live-Streaming mit uns bei dieser Christmette verbunden sind!
Vor 200 Jahren entstand das weltberühmte Lied "Stille Nacht, heilige Nacht". Es ist heute für die meisten Menschen der Inbegriff von Weihnachten schlechthin. Es wird auf dem gesamten Erdball in über 300 Sprachen und Dialekten gesungen und selbst jene, die an gar nichts glauben, überkommt beim Singen des Liedes eine eigenartige Stimmung. Das mag vielleicht daran liegen, zu wissen, dass ein großer Teil der Menschheit dieses Lied mitsingt und dass wir uns dadurch zumindest einmal im Jahr als die Menschheitsfamilie zeigen, die wir für den Rest des Jahres – durch Zersplitterung in unterschiedliche politische und wirtschaftliche Systeme, in Rassen, Klassen, Sprachen und Religionen – leider nicht sind.
Doch so sehr auch das Lied "Stille Nacht, heilige Nacht!" in der Konsumgesellschaft der westlichen Welt den süßlichen Geruch einer kitschbeladenen Glühweinseligkeit angenommen hat, so sehr sind sowohl sein Inhalt als auch die Geschichte seiner Entstehung ein bleibendes Spiegelbild dessen, was Weihnachten wirklich bedeutet.
"Stille Nacht, heilige Nacht!" - Es ist ein Lied, das aus gesellschaftlichem und biografischem Elend entstand. Der Arnsdorfer Dorfschullehrer und Organist Franz Xaver Gruber und der Hilfspriester Joseph Mohr sehnten sich danach, dass in einer von den Napoleonischen Kriegen, von Epidemien, Hunger, Elend und Armut gezeichneten, grausamen Zeit etwas unendlich Tröstliches, etwas Schönes aufscheint. Was Nacht und Elend ist, haben beide an anderen, aber auch an sich selbst erfahren.
Joseph Mohrkam als uneheliches Kind eines Musketiers und einer Strickerin zur Welt. Uneheliche Kinder galten zu dieser Zeit von Geburt an als makelbehaftet. So bekam Joseph Mohr den letzten Salzburger Scharfrichter zum Taufpaten, einen Mann, der sich auch um die Entsorgung von Tierkadavern kümmerte und der sich seinen schlechten Ruf als Taufpate lediger Kinder aufbesserte. Der spätere Priester und Sozialreformer Mohr trug tief in seinem Inneren dieses Stigma seiner Geburt und Kindheit. Franz Xaver Grubererfuhr familiäres Leid der anderen Art. In einer Zeit hoher Kindersterblichkeit wurden von seinen insgesamt zwölf leiblichen Kindern nur vier erwachsen. Als er im Stille-Nacht-Lied Joseph Mohrs Textzeile "Holder Knabe im lockigen Haar, schlaf in himmlischer Ruh" vertonte, mag wohl auch das Leid über den Verlust seiner eigenen, nunmehr im Himmel ruhenden Kinder mitgeklungen haben.
In dieser dunklen Nacht der eigenen Biografie aber auch der ganzen damaligen vom Krieg zerrütteten Gesellschaft erzählen Mohr und Gruber mit ihrem Lied die Geschichte des Kindes von Bethlehem – und werden damit zu Botschaftern des Wesens Gottes. Denn Gott erscheint den Menschen als Lichtschein in finsterer Nacht. Sein Kommen heiligt die soziale und moralische Dunkelheit und verwandelt das Unheilige in Heiliges.
"Stille Nacht, heilige Nacht! Hirten erst kundgemacht …" – Mit dieser zweiten Strophe des Liedes wird die Ursituation der Weihnachtserzählung aufgesucht. Draußen auf dem Felde, bei den Hirten. Die Hirten der damaligen Zeitwaren Außenseiter, Stigmatisierte. Man mied sie, weil sie häufig mit kranken Tieren und mit Tierkadavern in Berührung kamen. Ausgerechnet bei ihnen öffnete sich der Himmel. Im Tempel in Jerusalem tat sich nichts, wohl aber bei diesen Outsidern der Gesellschaft am Rande der Welt. Gott zeigt sich nicht als gigantische Flammenschrift über den Metropolen der Welt, sondern als kleines Kindlein in einer Futterkrippe.
Papst Benedikt XVI. machte genau dies zum Thema in einer seiner Weihnachtspredigten. Er sagte: "Gott ist so groß, dass er klein werden kann. Gottist so mächtig, dass er sich wehrlos machen kann und als wehrloses Kindlein auf uns zugeht, damit wir ihn lieben können. Gottist so gut, dass er auf seinen göttlichen Glanz verzichtet und in den Stall herabsteigt, damit wir ihn finden können und so seine Güte auch uns berührt, uns ansteckt und durch uns weiterwirkt. Das ist Weihnachten."
Wenn das stimmt, liebe Schwestern und Brüder, welche ungeheure Würde hat dann der Mensch! Wenn das stimmt, mit welcher Achtung müssten wir dann selbst noch dem Allerschäbigsten unserer Mitmenschen begegnen? Wennes stimmt, dass uns Gott in stinkende Windeln gewickelt erscheint und durch den Umstand einer asozialen Geburt in die Welt kommt - wie sehr müssten dann auch wir alle Menschen suchen, gütig zu ihnen sein, für sie kämpfen, sie trotz ihrer Fehler lieben, ihnen nachgehen? Der Gottessohn Jesus teilte das Schicksal der vielen, für die auch heute kein Platz ist, die Armen, seelisch Verwundeten und Verängstigten in einer Gesellschaft, aber auch die Millionen Vertriebenen, Flüchtenden und Verfolgten. Lassen wir die Weihnachtskrippe nicht zum Gewohnheitsinventar der bürgerlichen Wohlfühlstube verkommen, sondern erkennen wir in ihr den skandalösen Gott, der sich aus Liebe erniedrigt und uns mit geöffneten Armen zur Liebe aufruft!
"Stille Nacht, heilige Nacht" – "Jesus der Retter ist da!" Mit diesem Ruf endet das Lied von Gruber und Mohr und benennt das wahre Glücksversprechen von Weihnachten. Wenn wir im Alltag von Rettung reden, dann denken wir eher bescheiden. Wir hoffen, dass im Notfall ein Krankenwagen zur Stelle ist, dass uns das Finanzamt nicht am Kragen zu packen bekommt, dass wir glimpflich davonkommen aus der einen oder anderen brenzligen Lebenssituation. Doch das Weihnachtsevangelium versteht unter Rettung etwas ganz anderes. Die Bibel verheißt wirkliche und absolute Rettung vom Tod. Es geht um die Rettung vor dem existentiellen Ertrinken, über das wir uns gerade zu Weihnachten mit zu süßen Keksen, zu viel Alkohol und zu schlechtem Fernsehen hinwegtrösten wollen. Die Weihnachtsge-schichte verheißt uns stattdessen, dass es einen Retter für jeden von unsgibt. Dass Gott uns liebt und für uns persönlich sorgt. Dass wir Leben haben, für jetzt und immer – auch wenn wir krank und alt werden und schließlich einmal auch sterben müssen.
Das ist die dreifache, ganz und gar unsentimentale Botschaft des Stille-Nacht-Liedes: Dass in dunkler Nacht und in schmutzigen Zeiten denen, die am äußersten Rande stehen und im Dreck sitzen, die dauerhafte Rettung verheißen ist. Diese Botschaft ist ein Trost für uns alle in trostbedürftiger Zeit. Sie ist aber auch ein Aufruf zur menschlichen Gemeinschaft, die uns zu Leistungen und Taten befähigt, die wir als einzelne nicht erbringen könnten. Bedenken wir: Nicht ein Mensch allein, sondern zwei Menschen haben – zusammengefügt durch Sympathie, Freundschaft und das Elend ihrer Zeit – das Stille-Nacht-Lied geschaffen und der Welt damit ein unsterbliches Zeugnis der Weihnachtsgeschichte geschenkt.
Xaver Gruber und Joseph Mohr müssen etwas von diesem Weihnachtsgeheimnis in der eigenen Seele verspürt haben. Ich wünscheIhnen und uns allen, dass etwas davon auch auf uns überspringt. Dass wir im Blick auf den menschgewordenen Gott wieder lernen, nicht allein bei uns selbst zu verweilen, sondern dass wir zu Menschen werden, die einander gerade das geben, was sie selbst behalten möchten. Dann erst nähern wir uns dem Gott, der sich uns aus Liebe im Kind von Bethlehem in dieser Nacht selbst zum Geschenk macht. Dann erst ist wirklich Weihnachten. Wenn wir in dieser Nacht und in diesen Tagen immer wieder das Lied "Stille Nacht, heilige Nacht" singen oder hören, denken wir auch daran!
AMEN.